Politik

Ostern 2020 und das Kriegsende 1945

Am 12. April vor 75 Jahren endete der Krieg in Sangerhausen, und am 12. April 2020 - dem Ostersonntag - hätten wir die neue Ratsglocke aus ihrer Grube gehoben. Der Glockenguß ist verschoben. Trotzdem möchte ich zu Ostern an das Kriegsende in Sangerhausen erinnern. Hier meine Gedanken dazu. Margot Runge

Rathaus SGH

Rathaus SGH

Sangerhausen.
Als sich zwei Männer am 12. April 1945 von Sangerhausen in Richtung Wallhausen aufmachten, wussten sie nicht, was sie erwartet: Tod oder Leben. Hinter ihnen, in Sangerhausen, faselten Unbeirrbare immer noch vom „Endsieg“. Vor ihnen, von Westen her, rückte die amerikanische Armee auf Wallhausen zu. Die beiden Männer hießen Johannes Hess von Wichdorff und Richard Wensch, Bürgermeister der eine und Mittelschul-Lehrer der andere. In ihrer Tasche trugen sie ein weißes Tuch.

Eine weiße Fahne. An der Hüttenmühle sollte Sangerhausen kampflos übergeben werden. Würde es gelingen? Würde Brigadegeneral Hickey ihr Friedensangebot akzeptieren und die Stadt verschonen? Würden sie festgenommen, in ein Lager gesteckt werden? Immerhin war der Bürgermeister Parteigenosse und Funktionsträger des Regimes. Was wäre, wenn sie unterwegs einem fanatischen „Pg“ in die Hände liefen? Und würden sich die Leute in Sangerhausen tatsächlich den Durchhalteparolen der Nazis widersetzen und ebenfalls Bettlaken aus den Fenstern hängen? Wenn sich Wirrköpfe auf dem Turm verschanzen oder aus einem Kellerloch das Feuer eröffnen? Der Bürgermeister und der Lehrer, sie wussten nicht, ob sie dem Leben oder dem Tod entgegengingen. Sie wussten nur eins: sie gingen für das Leben. Am Vortag hatten mehrere Leute den Bürgermeister aufgesucht und ihn angefleht.

Als die Frauen sich am Ostersonntag zum Grab aufmachten, wussten sie nicht, was sie erwartet: Tod oder Leben.** Sie wussten nur: sie müssen sich um den Toten kümmern. Sie würden die Folterspuren von nahem sehen. Wenn sie seine Wunden wuschen, würden auch ihre Wunden wieder aufbrechen. Sie würden die toten, kalten Glieder salben und verbinden, aber mit aller ihrer Zärtlichkeit würden sie ihn nicht mehr erreichen.
Mit ihren Tränen schluckten sie die Angst herunter. Werden Soldaten ihnen den Weg versperren, ihnen Gewalt antun, sie verschwinden lassen. Und dann war da noch der Stein vor dem Grab …

Als die Frauen sich am Ostersonntag aufmachten, war ihnen klar: sie gingen dem Tod entgegen und seinen bitteren Spuren. Doch am Grab erwartete sie: nicht das Leben, aber seine Spur. Eine Botschaft. Eine Lichtgestalt. Das Leben selbst war schon weitergezogen. Es war nicht mehr bei den Leichnamen, nicht mehr in den dunklen Höhlen, wo sie die Toten verscharren und vergraben, nicht mehr bei den Bergen toter Menschen. Das Leben war schon weiter, in Galiläa. Dort erwartete es sie. Es hatte ihnen seine Botschaft hinterlassen, wo sie einen neuen Anfang finden könnten, wohin sie umziehen könnten. Die Frauen mussten weiter, so wie die vielen Umsiedler*innen und Flüchtlinge damals in ganz Europa.

Genau 75 Jahre vor dem Ostersonntag heute, am 12. April 1945,  Punkt 11 Uhr rollten amerikanische Panzer an der Scharfen Ecke vorbei in die Kylische Straße ein.
Aus vielen Orten werden solche Geschichten erzählt. Manchmal war es ein Pfarrer oder ein Arzt, der den Bürgermeister oder Stadtkommandanten zum Aufgeben überredete. In Artern wäre ein Handwerksmeister fast in letzter Minute dafür erschossen worden.

Wie mutig der Schritt der beiden tatsächlich war, können wir heute kaum beurteilen. Sie haben ihr Leben riskiert. Offen bleibt: Warum erst jetzt? Warum musste erst halb Europa in Trümmern liegen, Millionen Menschen sterben, bis sich Leute mit weißen Bettlaken hervorwagten? Und wofür sind sie früher marschiert, haben Lieder gesungen, Jugendliche an die Front geschickt, Kindern eingetrichtert, dass „am deutschen Wesen die Welt genesen“ werde? Welche Reden hatte Hess von Wichdorff zwölf lange Jahre gehalten, seit er im Dezember 1933 Bürgermeister wurde?
Als amerikanische Soldaten im April 1945 nach Buchenwald vorrückten, taten sich ihnen Gräber auf, und die Berge von Toten kamen ans Licht. Doch viele Leute von Weimar scherzten, als sie auf Befehl der Amerikaner hoch zum Lager wanderten und sich das Grauen mit eigenen Augen ansehen sollten, und nur wenigen blieb das Lachen im Hals stecken ob der Toten, an deren Schicksal sie anderen die Schuld gaben, nur nicht sich selbst.

Ostern geht es um Tod und Leben. Die Frauen am Ostermorgen fühlten sich für den Toten verantwortlich. Sie übernahmen Verantwortung, auch wenn sie keine Schuld traf. Sie kümmerten sich um ihn. Deshalb erschien ihnen auch das Licht am Grab. Sie hörten Worte, die ihnen zeigten, wo sie neues Leben finden würden.

Ostern geht es in diesem Jahr um Tod und Leben für Millionen Menschen. Frauen und Männer kümmern sich um Kranke. Sie beweinen Sterbende, von denen sich niemand verabschieden kann, und begraben unbekannte Tote.
Auch für uns wird es nicht so weitergehen wie bisher. Die Frauen am Grab waren verwirrt und erschrocken. Sie konnten nicht in Jerusalem bleiben, in ihrer vertrauten Umgebung. Sie mussten ihr Leben anderswo neu aufbauen.
Das steht in den nächsten Monaten und Jahren vielen Menschen bevor, und es steht auch uns als Menschheit bevor. 75 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs müssen wir das Zusammenleben auf der Erde noch einmal neu gestalten. Wir müssen Teilhabe und  Solidarität neu durchbuchstabieren und die Weltordnung gerecht umbauen.
Ostern heißt: es wird nicht mehr so sein wie vorher. Selbst Jesus nicht und Gott nicht. Die Frauen am Ostermorgen haben diesen Schmerz und diese Verwirrung durch. Aber sie sind nach Galiläa losgegangen. Sie haben es uns vorgemacht. Ihnen sind die Kräfte zugewachsen. Und sie haben erlebt: Gott begleitet sie. Jesus ist aufgestanden.

** Die Ostergeschichte
Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, die Maria des Jakobus und Salome duftende Öle, um zum Grab zu gehen und Jesus zu salben. Sehr früh am Sonntag gingen sie zum Grab, als die Sonne gerade aufging. Da sagten sie zueinander: »Wer wird uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen?« Doch als sie aufschauten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war. Dabei war er sehr groß. Und als sie ins Grab hineingingen, sahen sie auf der rechten Seite eine jünglingshafte Gestalt sitzen, die ein strahlend helles Gewand trug. Da erzitterten sie. Die Gestalt sagte zu ihnen: »Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus aus Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist von den Toten auferweckt worden, er ist nicht hier; seht den Ort, wo sie ihn hingelegt hatten. Nun aber geht hin, sagt seinen Jüngerinnen und Jüngern, auch dem Petrus: Er geht euch nach Galiläa voraus; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.« Und die Frauen gingen hinaus und flohen von dem Grab, denn sie waren außer sich vor Zittern und Ekstase. Und sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich. (Markusevangelium Kapitel 16,1-8)

Pfarrerin Margot Runge, Sangerhausen - www.queerpredigen.com

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