Am heutigen Nachmittag versammelten sich knapp 50 Sangerhäuserinnen und Sangerhäuser zu einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus. Die Veranstaltung fand am Denkmal für die Opfer des Faschismus an der Marienkirche statt, das sechs Jahre nach dem Krieg 1951 errichtet wurde.
Nach einer kurzen Begrüßung richtete Dr. Peter Gerlinghoff, gebürtiger Sangerhäuser und Zeitzeuge, das Wort an die Anwesenden. In einer eindringlichen Rede erinnerte er an das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung durch die Alliierten, insbesondere auch durch die Rote Armee, deren Beitrag und Opfer er besonders würdigte.
Dr. Gerlinghoff, der das Ende des Krieges und die Nachkriegszeit in Sangerhausen selbst erlebt hat und seit Jahrzehnten aktiv in der bundesdeutschen Friedensbewegung mitarbeitet, verband die historische Erinnerung mit deutlicher Kritik an den aktuellen politischen Entwicklungen. Er warnte vor einer wachsenden Kriegsrhetorik, insbesondere gegenüber der Russischen Föderation, und mahnte zu Besonnenheit und Dialogbereitschaft.
„Nie wieder Krieg!“ – diese Worte zogen sich wie ein roter Faden durch seine Rede. Er forderte, diesen Appell nicht nur als leere Formel zu verstehen, sondern als aktiven Auftrag, Friedensarbeit zu leisten und alle Möglichkeiten, von wem auch immer zu nutzen, um Konflikte mit diplomatischen Mitteln zu lösen.
Im Anschluss an die Gedenkveranstaltung wurde im Café Kolditz der Dokumentarfilm „75 Jahre Frieden in Sangerhausen“ gezeigt, der im Jahr 2020 produziert wurde. Der Film, in Zusammenarbeit mit dem Kreis-Kinder- und Jugendring (KKRJ) entstanden, enthält bewegende Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und zeigt, wie wichtig Erinnerungsarbeit auch für kommende Generationen ist.
Rede von Dr. Peter Gerlinghoff:
Meine Damen und Herren, Herr Oberbürgermeister,
es ist für mich wirklich eine Ehre, dass ich an diesem Tag, vor diesem Denkmal und zu diesem Thema zu Ihnen sprechen kann: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!
Diese Worte hörte ich zum ersten Mal bewusst 1951 bei der Einweihung dieses Denkmals. Ich war damals in der 7. Klasse und wir Schüler mussten ein Spalier zum Empfang der Gäste bilden. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Dieser Appell aus dem Schwur von Buchenwald hat heute eine Aktualität wie selten in den vergangenen 80 Jahren. Stehen wir vor einem neuen Krieg? Wer ist unser Feind? Und vor allem: Was bedeutet Krieg? Am 8. Mai 1945 wusste das jeder. Die Menschen standen damals voll und ganz hinter diesem Nie wieder!
Verglichen mit Dresden oder Berlin, ganz zu schweigen von den heutigen Kriegen in Gaza oder der Ukraine, ist unsere Stadt glimpflich durch den Krieg gekommen. Ich kann nicht im vollen Sinn als Zeitzeuge über den Krieg sprechen. Aber tief eingeprägt hat sich mir dennoch, was ich als Kind, besonders in den letzten Monaten des Krieges erlebte:
- Fliegeralarm, quälende Stunden im Luftschutzkeller, Gasmasken auf! ruft der Blockwart, Herr Jäger.
- neben mir eine Frau aus Hamburg, ausgebombt, sie hält sich dauernd das Taschentuch vors Gesicht, alle Zimmer im Haus voll mit Flüchtlingen
- Tiefflieger, jeden Moment können sie auftauchen.
- Ostarbeiter dürfen nicht auf den Bürgersteig, dann Kolonnen mit Elendsgestalten wie hier auf dem Denkmal – Evakuierungsmärsche aus den Außenlagern von Buchenwald und Dora
- schwarze Schleifen am Arm der Frauen. Versehrte haben Vortritt. Feind hört mit. Ach, der ist wohl auch gefallen?
- Ganz zum Schluss: Werwolf. Hoffentlich kommt die SS nicht hier her?
Soll das keine Befreiung gewesen sein? Als dieser Spuk am 8. Mai überall in Deutschland zu Ende war.
Nie wieder Krieg! Dieses Denkmal, an dem wir heute, 80 Jahre danach, stehen und diesen Ruf erneuern, entstand auf Initiative der VVN Sangerhausen, diese Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes war breit aufgestellt. Wer kennt heute noch die Namen: Willi Ermisch, Uwe Döring, Friedrich Faust – Sozialdemokraten und Kommunisten, als Christ - Alban Heß, der Mitgründer der CDU in Sangerhausen. Sie alle hatten Haft in Konzentrationslagern hinter sich und Rosa Thälmann, die Frau des in Buchenwald ermordeten Kommunistenführers zur Einweihung des Denkmals eingeladen. Ich habe noch vor Augen, wie diese kleine Frau an uns vorbei eilig zur Tribüne schritt. Als sie sprach, sah man nur ihren Kopf hinter einem großen Blumengesteck. „Wir haben es nicht geschafft, den Faschismus aus eigener Kraft zu besiegen. Deswegen müssen wir unseren Befreiern dankbar sein.“ Diesen Satz brachte ich mit nach Hause, darüber wurde bei uns in der Familie gesprochen.
Sangerhausen ist durch die Amerikaner befreit worden. Über 300.000 amerikanische Soldaten sind an der europäischen Front gefallen. Auch für uns, wir sollten das nicht vergessen. Die USA traten 1944, in der Krieg ein, lange nach Stalingrad. Die Hauptlast des Krieges lag bei der Sowjetunion. Die Verluste der Roten Armee gehen nicht in Hunderttausende, sie gehen in die Millionen: Auf dem Schlachtfeld, durch Hunger und Seuchen in Gefangenenlagern, die nicht den internationalen Regeln entsprachen, durch Sonderbefehle der Heeresleitung, Genickschussanlagen in den Konzentrationslagern. Wollen wir wieder Krieg gegen Russland?
Nie wieder Krieg! Das darf kein Mantra werden, zu düster ist die Bilanz: Erster Weltkrieg: zwei Millionen Gefallene. Zweiter Weltkrieg: sechs Millionen tote Deutsche. Wir müssen überlegen, was ist in unserer Geschichte schief gelaufen? Was kann wieder schief laufen?
Ein Krieg fällt nicht vom Himmel. Schon Clausewitz wusste: Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Krieg entsteht in den Köpfen der Menschen, heißt es in der UNESCO - Präambel. Lüge, Hass und Überheblichkeit sind seine Vorboten. Wir Deutschen waren es, die zweimal unseren östlichen Nachbarn den Krieg erklärten. 1914 hatte Russland angeblich zu stark aufgerüstet und mobilisiert, 1941 bedrohte der jüdische Bolschewismus unsere Rasse. In beiden Fällen war das wirkliche Ziel das gleiche: Einen politischen und wirtschaftlichen Großraum zu schaffen, der nach unseren Regeln funktioniert. Und heute?
„Randstaatenpolitik“ war 1914 das Stichwort. Die Völker am Rande des Russischen Reiches wurden gegen den Zaren aufgehetzt, bewaffnet und in den Kampf geworfen. Ihre politische Zukunft: Vasallenstaaten Deutschlands von Polen bis Georgien. Die erste Ukrainische Rada war ein Produkt der Obersten Heeresleitung. Bedrückend sind die Parallelen zur Russlandpolitik von Nato und EU.
Diese deutschen Weltmachtträume von 1914 und 1941 spiegeln Überschätzung der eigenen Kraft und Blindheit gegenüber den Realitäten. Dem russischen Bär sollte im Nu die Tatze abgeschlagen werden. Nach Paris – ein Spaziergang. So stand es 1914 mit Kreide auf den Türen der Züge, die zur Front gingen. Hitler hielt die Ausrüstung der Soldaten mit warmer Kleidung für überflüssig. Der Russlandfeldzug sollte vor Wintereinbruch beendet sein. Es kam im Kriegsverlauf erheblich anders, wie Sie wissen: Millionen Tote, Deutschland der Verlierer und jedes mal kleiner, 1945 zudem mit Schande bedeckt.
Den Franzosenhass haben wir überwunden. Gott sei Dank. Das Feindbild Russland ist geblieben und wird im Moment gegen jede Vernunft wieder befeuert. Man sagt Putin und meint die Russen. In Köln wurde 2024 eine Sinfonie von Tschaikowsky aus dem Programm genommen, weil das dem Publikum angeblich nicht zumutbar war. Russische Künstler werden gemobbt, KZ-Überlebende ausgeladen. In Berlin darf ein russisches Lied aus dem 2. Weltkrieg bei öffentlichen Veranstaltungen nicht gesungen werden.
Meine Damen und Herren, wie der Antisemitismus ist auch der Russenhass vor allem eine gewaltige Dummheit, die uns wirtschaftlich schadet. Wir verlieren einen Markt und günstige Energie. Der neue Außenminister wird mit dem Satz zitiert. „Russland wird immer unser Feind sein.“ Ich hoffe, es ist ihm im Wahlkampf nur so rausgerutscht. Bizarr: Der amerikanische Vizepräsident Vance belehrt uns in München: Nicht Putin ist die Gefahr für Europa, sondern die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Denken wir zurück: Politiker, die deutsche Interessen erfolgreich vertreten haben, sind auf Russland zugegangen: Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und mit Einschränkungen auch Helmut Kohl. Heute wird jeder, der ein realistisches Verhältnis zu Russland anmahnt, stigmatisiert und medial erledigt.
Wir erleben einen Tiefpunkt politischer Kultur. Wenn es stimmt, dass der Krieg in den Köpfen beginnt, dann sind wir in Deutschland mitten im Kriege. Wir sollen kriegstüchtig werden, nicht verteidigungsbereit. Der Gedanke gemeinsamer Sicherheit ist aufgegeben. Rüstungskontrolle, Beschränkung des Rüstungswettlaufs, Abrüstung sind keine politischen Zielsetzungen mehr. Ein mentaler Rückfall in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
Nie wieder Krieg! Das verlangt heute: Raus aus der Konfrontationslogik! Unterstützung jeder Initiative zur Beendigung der laufenden Konflikte. Wie enttäuschend, dass Deutschland 2024 den Ruf des verstorbenen Papstes Franziskus nach Waffenstillstand nicht aufgegriffen hat und sich heute gegen Trumps Bemühungen stellt. Sollte die Mahnung 80 Jahre nach Kriegsende nicht lauten: Brücken bauen statt Waffenlieferungen! Verbinden statt trennen! Wir brauchen die Freundschaft sowohl der Ukrainer als auch der Russen, der arabischen Welt wie Israels. Eine Welt! statt exklusiver Allianzen! Handel und Austausch mit China, Indien und den aufstrebenden Schwellenländern könnte die lahmende Wirtschaft der EU besser in Schwung bringen als Aufrüstung, in die hunderte Milliarden fließen und anderswo fehlen.
Nie wieder Krieg! Frieden schaffen ohne Waffen! – das möchte man gern unserer neuen Regierung mit auf den Weg geben. Lassen Sie uns hoffen! Ich danke für die Aufmerksamkeit.