Sangerhausen.
Ungeliebte Befreier - Eine Betrachtung zum 8. Mai
von Peter Gerlinghoff
Als der Sangerhäuser Bürgermeister am 12. April 1945 mit weißer Fahne den amerikanischen Truppen entgegen ging, entsprach er nicht nur den angsterfüllten Erwartungen in der Stadt, er handelte auch nach dem Kalkül der Granden seiner Partei, die damals Waffenstillstand mit den Westmächten suchten, um ein Vorrücken der Russen zu verhindern. Himmler hatte dazu seit Januar über mehrere SS-Kanäle sondieren lassen.
Die USA waren spät, erst nach Stalingrad, in den Krieg eingetreten. Sie haben aber abgesehen von den erheblichen materiellen Aufwendungen auch etwa 400.000 Soldaten für unsere Befreiung geopfert. Wir sollten das nicht vergessen.
„Dass bloß nicht die Russen kommen ...“ diesen Satz konnte man im Frühjahr 1945 häufig hören. Der Krieg hatte im Osten besonders schlimm gewütet, entsprechend würde die Strafe sein. Zudem wirkte Goebbels Gräuelpropaganda. Aber nach einem kurzen Zwischenspiel der Amerikaner kamen die Russen am 3. Juli 1945 dann doch noch nach Sangerhausen. Statt Stalinorgel und T-34 zeigten sich als erstes pferdebespannte Panjewagen, die Küchengerät und Möbel transportierten. Erst später sah man Soldaten auf merkwürdig eckigen Lastwagen, die mit riesigen weißen Nummern gekennzeichnet waren. Am Abend – keine GPU, dafür Soldaten, die offensichtlich angeheitert Fahrradfahren übten.
Bei uns in der Kylischen Straße 29 hatte sich im Saal ein Hauptmann einquartiert. Er kam stets erst spät in der Nacht, heftig polternd nach Hause, schlief den ganzen Vormittag und ließ sich gegen 3 Uhr nachmittags von meiner Mutter das Frühstück machen. Wir Kinder schauten staunend zu. Aber diese familiäre deutsch-russische Begegnung dauerte nur wenige Tage, dann hatten die Russen ihr Quartier in der Nähe der katholischen Kirche bezogen und die Straße mit einem Schlagbaum abgesperrt. Zwei Welten waren entstanden.
Man wusste zunächst nicht viel von den Russen, war aber vorsichtig, wenn die Rede auf sie kam. Über Vergewaltigungen in Berlin in den drei Tagen „offener Stadt“ wurde gesprochen, aber das Thema reihte sich ein in die vielen traumatischen Erlebnisse der Kriegszeit. Alle Blicke richteten sich nun nach vorn. Eine neue Normalität trat ein.
Bewusst habe ich das Wort „Befreiung vom Faschismus“ zum ersten mal 1951 bei der Einweihung des Denkmals an der Marienkirche wahrgenommen. Unsere Schule musste dabei Spalier stehen, denn wir waren über Nacht aus einer bislang namenlosen Grundschule die „Ernst-Thälmann-Schule“ geworden, eine Geste gegenüber Rosa Thälmann, die zur Einweihung des Denkmals nach Sangerhausen gekommen war.
Kriegsende ja, aber Befreiung? Auch in Westdeutschland, wo ich später lebte, blieb diese Frage im öffentlichen Bewusstsein lange Jahre unbeantwortet. Erst Richard von Weizsäcker hatte 1985 den Mut zu einem klärenden Wort. Weitgehend unbekannt, gern übersehen, vielfach verschwiegen werden jedoch bis heute die menschlichen Opfer, die die Sowjetunion für unsere Befreiung gebracht hat. Deutlich hat sich in diesen Tagen der Historiker Götz Aly geäußert: „Es war die Sowjetarmee, die die Deutschen von den Nationalsozialisten befreit hat. Die deutsche Politik kann sich nicht überwinden, Russland zu danken. Das ist eine Schande.“
Unter 27 Millionen Kriegstoten hat die Sowjetunion 13 Millionen gefallene Soldaten zu beklagen. Die deutschen Zahlen: 6,35 Millionen Kriegstote, davon 5,18 Millionen gefallene Soldaten. Hitler und seine Generäle führten im Osten einen Weltanschauungskrieg. Ostvölker galten als rassisch minderwertig und sollten der Herrenrasse Platz machen. Das Wüten der Einsatzgruppen im Rücken der Front und die Blockade Leningrads sind Symbole für die Verbrechen von Wehrmacht und SS an der Zivilbevölkerung. Der Kommissarbefehl und die Malträtierung der sowjetischen Kriegsgefangenen sind Ausdruck der gleichen rassistischen Politik. 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene kamen in deutschem Gewahrsam um. Sie stellen neben den 6 Millionen Holocaustopfern die zweitgrößte Opfergruppe der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft dar.
Für die in Deutschland gefallenen Sowjetischen Soldaten sowie die hier umgekommenen sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter wurden nach 1945 zahlreiche Denkmäler errichtet, auch in unserer Nähe. Sie stehen heute leider im Schatten der Erinnerungskultur und werden wenig beachtet. Zwei Namen sollte aber jeder kennen: Stukenbrock (NRW) mit 60.000 und Zeithain (Sachsen) mit 30.000 sowjetischen Gräbern.
Im „2+4-Vertrag“ hat sich das wiedervereinte Deutschland zum Schutz dieser Friedhöfe verpflichtet. Aber sie haben keinen angemessenen Platz in den jährlichen Gedenkveranstaltungen zum Kriegsende gefunden. Viele von ihnen, wie auch die Anlage in Eisleben, sind zudem vom Verfall bedroht. Der 75. Jahrestag des Kriegsendes könnte Anlass sein, diese peinliche Gedächtnislücke zu schließen.
An die eigenen Opfer des Krieges zu erinnern ist naheliegend, aber Ehrlichkeit und Verantwortungsgefühl gegenüber der Geschichte erweist sich erst durch die Bereitschaft, auch die Opfer der anderen Seite wahrzunehmen.
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