Sangerhausen.
Für den Schüler Florian Landgraf waren es zwei aufregende Abende, an denen er miterleben durfte, wie eine neue Glocke entsteht. Auf die Aufforderung der Glockengießer sich freiwillig zu melden, schnappte er sich sofort die ihm zugereichte Drahtbürste und begann eifrig, die kurz zuvor aus der Grube gehobene neue Ratsglocke zu putzen. -
Ca. 35o Gäste besuchten die 2 Tage des Glockengusses, welche im Auftrag des Kuratoriums Ratsglocke durch den Verein für Geschichte von Sangerhausen und Umgebung e.V. öffentlich durchgeführt wurden.
Am 1. September, bei schönsten Sonnenschein, füllte sich der Hof des ehemaligen Sangerhäuser Marstalls zunehmend. Viele Sangerhäuser*innen wollten sich ein solches Ereignis nicht entgehen lassen, um mitzuerleben wie eine neue Glocke entsteht. Nicht eben eine normale Glocke, sondern eine Glocke, die für Frieden und Demokratie in unserer Stadt klingen soll. Und dies an einem Tag, der an einen der dunkelsten Tage des vergangenen Jahrhunderts erinnert, den Beginn des Zweiten Weltkrieges.
Auch wenn die Glocke eigentlich am 12. April, dem Tag vor 75 Jahren, der friedlichen Übergabe der Stadt Sangerhausen an die amerikanische Armee, gegossen werden sollte und die Veranstaltung wegen der
Pandemiebestimmungen nicht durchgeführt werden konnte, hat man doch ein ebenso geschichtsträchtigen Tag gefunden, um die Intentionen des Stadtrates von Sangerhausen umsetzen zu können.
Etwa 14 Monate zuvor hatte der Stadtrat und alle ihm angehörenden Fraktionen gemeinsam, mit übergroßer Mehrheit den Guss einer neuen Glocke, einer weltlichen Ratsglocke, verabschiedet. Sie sollte 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Rahmen des Gedenkjahres “75 Jahre Frieden in Sangerhausen“ neu gegossen werden, nachdem sie im April 1940 vom damaligen Rat und der Verwaltung der Stadt Sangerhausen im Rahmen einer Metallspende als Geburtstagsgeschenk an den damaligen Reichskanzler Adolf Hitler zur Waffenproduktion verschenkt wurde.
Aber der Reihe nach:
Zur Vorbereitung des eigentlichen Glockengusses waren einige Dinge zu tun. So musste zunächst eine ca. 1,5 m x 1,5 m große Grube, 1,2 m tief auf dem Grundstück des Marstalls ausgehoben werden. Die bereits einen Tag zuvor angereiste Firma Glocken- & Kunstguss Schmitt aus Brockscheidt in Rheinland-Pfalz baute neben der Grube einen Ofen aus Schamottsteinen, um das in Barrenform mitgebrachte Metall, eine Legierung aus Kupfer und Zinn zum eigentlichen Glockenguss auf über 1000 °C erhitzen zu können. Die eigentliche Form für die Ratsglocke mit all ihren Symbolen und Schriften hatte sie bereits vorbereitet und mitgebracht. Bis zum Abend des 31. August wurde diese bereits in die Grube eingebracht und verfüllt, sodass nur noch die Eingusslöcher für den Glockenguss zu sehen waren. Gegen 15:00 Uhr am 1. September wurde der Ofen angeheizt. Damit waren die Vorbereitungen für den Glockenguss getätigt.
Genau rechtzeitig, denn ab 17:00 Uhr kamen bereits die ersten Gäste, um diesen Ereignis beiwohnen zu können.
Der ca. 2000 m² große Hof inmitten der Kernstadt Sangerhausen füllte sich zunehmend. Entsprechend den Pandemiebestimmungen und der Genehmigung durch das Gesundheitsamt durften das Schauspiel bis zu 200 Schaulustige verfolgen.
Nach einer kurzen Begrüßung durch den Vorsitzenden des Kuratoriums Ratsglocke Herrn Helmut Loth, welcher auch dem Verein für Geschichte von Sangerhausen und Umgebung vorsteht und einiger bewegender Worte durch den Hausherren Herrn Dr. Peter Gerlinghoff, trug der Schauspieler Benjamin Wilke vom Theater der Lutherstadt Eisleben Schillers “Das Lied von der Glocke“ vor. Eine perfekte Einstimmung für das, was jetzt kommen sollte.
Denn jetzt sollte der Höhepunkt des Abends erfolgen, die Verbringung des rot glühenden Metalls aus dem Bottich des Ofens in die Form der neuen Glocke.
Zunächst musste die Farbe und Temperatur des geschmolzenen Metalls durch mehrmalige Proben kontrolliert werden, denn es war und ist wichtig, dass die genaue Temperatur für den Glockenguss erreicht wird, um den Guss gelingen zu lassen.
Selbstverständlich wurden noch rechtzeitig durch die Schützencompagnie Sangerhausen 1571 e.V., welche ebenfalls den Glockenguss unterstützt, noch mehrere Hände voll Patronenhülsen in die glühende Masse geworfen. Dies, so Mario Milde als gegenteiliges Zeichen dafür, wofür die Glocke einst hergegeben wurde.
Das Erhitzen des Metalls nahm dann doch noch einige Zeit in Anspruch und die Anspannung bei den Gästen, die sich inzwischen um die Grube und den Ofen drängten, stieg.
Doch plötzlich wurde alles ganz ruhig und nach einem kurzen Segen durch die Glockengießer begannen der Juniorchef Christoph Schmitt und die mitgereiste Lehrling (w) Julia Robiller mit großen Schöpfkellen das glühend heiße Metall in die Form zu gießen. Die freiwerdende Luft und die Gase stiegen feuerfontänenhaft aus den dafür vorgesehenen Pfeifen der Glockenform.
Nach wenigen Minuten war dieses Schauspiel bereits schon wieder vorbei und die Gäste und Zuschauer honorierten die Arbeit der Glockengießer mit tosendem Applaus.
Den Abschluss des ersten Tages des Glockengusses bildete noch die Übergabe von zwei Spendenurkunden an zwei größere Spender, Frau Regina Stahlhacke und die Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE.
Neben diesen, so Helmut Loth haben sich bisher 69 Spenderinnen und Spender finanziell an der Umsetzung des Projektes Ratsglocke beteiligt.
Der 2. Tag:
Entgegen den Gästen, die sich für den zweiten Tag, das Ausdämmen der Glocke um 18:00 Uhr, angemeldet hatten, begann der Tag für die Glockengießer schon etwas früher. Bevor die neue Glocke das Licht der Welt erblicken konnte, musste die Grube in der sie am Abend zuvor gegossen wurde soweit ausgegraben werden, dass sie am 2. September abends mit einem kleinen Bagger herausgehoben werden konnte.
Zunächst hatte man den Eindruck, als wenn die Glocke nicht nach oben wolle, denn der kleine Bagger hatte alle Mühe die neue Glocke mit ihrem gesamten Gewicht (Glocke und Form) ans Tageslicht zu heben.
Nun war der Augenblick der Wahrheit gekommen. Die Spannung stieg nicht nur bei den vielen Gästen, sondern auch bei den Glockengießern. Ist der Guss gelungen?
Ein erster Beifall flammte auf, als die äußere Form der Glocke entfernt wurde.
Obwohl sie von oben bis unten noch schwarz durch den Ruß da stand, konnte man sofort sehen dass der Guss gelungen war. Selbst die Symbole und die Schrift waren schon zu lesen.
Nachdem sich das erste Erstaunen legte, ging man zum zweiten Akt des Abends über, der Grobreinigung der Glocke.
Mit Drahtbürsten ging es ans Werk. Jeder der daran mitwirkte war sofort von einer Ruß-Wolke eingeschlossen. Nach ca. einer halben Stunde war die Farbe der Glocke und alle Aufschriften deutlich zu erkennen und zu lesen. Der Abguss war gelungen.
Eine schöne Glocke, auf die die Sangerhäuser*innen stolz sein können.
"Friede sei fortan ihr Geläut * Die Bürger und der Rat von Sangerhausen * 1. Sept." steht auf der Glocke. Neben dem ältesten Siegel der Stadt Sangerhausen, der Jahreszahl 1754 und dem Wort UMGEGOSSEN, einem Bild des historischen Rathauses, der Jahreszahl 1940 und dem Wort ABGEGEBEN sowie dem aktuellen Stadtwappen, der Jahreszahl 2020 und dem Wort ERNEUERT, ist es eine Glocke mit sehr viel Inhalt.
Physisch war die Glocke demnach gelungen, aber wie sieht es mit dem geplanten Ton aus?
Erneut bildeten sich um den von der Firma Glocken- & Kunstguss aufgebauten Dreibock eine größere Anzahl von Zuschauern.
Die Glocke wurde im Dreibock hochgezogen, sodass sie frei schwingen konnte. Als erstes wurde sie gewogen. 163 kg! - so wie vorhergesagt.
Herr Loth bat nun den Vorsitzenden des Stadtrates von Sangerhausen, als den Vertreter der Bürgerschaft unserer Stadt, der Glocke den ersten Ton zu entlocken. Und wieder Applaus durch die vielen Gäste auf dem Hof des ehemaligen Marstalls, denn es klang gut und vor allen sehr lang nachhallend.
Zum Schluss prüfte der Seniorchef Herrmann Schmitt aus Burscheidt noch die genaue Klangfarbe der Ratsglocke und die genaue Dauer des Nachhallens – alles gut.
Mit einen guten Gefühl der Organisatoren und der Gäste der beiden ereignisreichen Tage ging auch der zweite Tag dem Ende entgegen.
Wie geht es nun weiter?
Nachdem am Vormittag des 3. September die Glocke noch auf Hochglanz poliert wurde, ging es auf die kurze Reise in die Schloßgasse Nr. 7, gegenüber des Erkers des Neuen Schlosses, ins Schaufenster der LBS Geschäftsstelle. Hier wird sie bis zur Fertigstellung und Anbringung im Turm des Rathauses für die Bürger*innen öffentlich ausgestellt.
Leider war es dem Kuratorium Ratsglocke nicht gelungen eine Genehmigung der Verwaltung dafür zu erhalten, die neue Bürger- und Ratsglocke im Foyer des Neuen Rathauses ausstellen zu dürfen.
Ein Fakt, der auch bei fast allen Gästen an den beiden Tagen für mehr als ein Kopfschütteln sorgte.
Auch das Fernbleiben der Verwaltung, wenn man mal die Pressesprecherin der Stadt außen vor lässt, sorgte mehr als für ein Unverständnis.
Aber es ist, wie es ist!
Am 3. Oktober so ist es geplant, soll die Glocke das erste Mal vom Rathausturm erklingen. Der eigentliche Akt soll 15.oo Uhr beginnen. Wir sind gespannt, was sich die Organisatoren einfallen lassen.
Selbstverständlich, so Helmut Loth bei der Verabschiedung, sind die Bürger*innen wieder zahlreich und vor allen herzlichst eingeladen.
weitere Links:
https://www.mansfeller-zeitung.de/artikel/2019-06/Stadtrat-beschliesst-Neuguss-der-Ratsglocke
http://www.geschichtsverein-sangerhausen.de/
https://www.glocken-schmitt.de/
https://www.mdr.de/sachsen-anhalt/halle/mansfeld/sangerhausen-ratsglocke-100.html
https://www.mdr.de/mdr-sachsen-anhalt/anschlag-ratsglocke-sangerhausen100.html
Info`s zu den ausgezeichneten Spendern:
http://www.jacobi-apotheke.de/jacobi-apotheke/?id=9074
https://www.fraktionsverein.de/nc/der-verein/der-verein/
https://www.mz-web.de/sangerhausen/spendenaktion-ob-sven-strauss--spd--kritisiert-plaene-fuer-ratsglocke-32680694
https://www.mz-web.de/sangerhausen/spendenaktion-altmetall-fuer-die-neue-ratsglocke-gesucht-33232460
Teaser zum Glockenguss: https://youtu.be/oaYyEAUkG2g
Langversion von Dr. Peter Gerlinghoff: https://m.youtube.com/watch?v=WMSrbBezxds